Montag: Die Auferstehungslinde
Liebe Gemeindeglieder und Gäste,
manches lässt sich am besten durch eine Geschichte sagen, so wie uns ja die Osterbotschaft selbst in Geschichten von der Begegnung mit dem Auferstanden nahekommt. In dieser Woche sollen darum österliche Geschichten unsere Impulse sein. Das mag uns ermuntern Ausschau zu halten, wo das Licht von Ostern auch in unserem Alltag aufscheint. Viel Freude beim Lesen und Nachspüren. Herzlich grüßt Sie, Ihr Pfr. Gerd Krumbiegel
Die Auferstehungslinde
Wohl kaum ein anderer Friedhof in Deutschland hat eine so interessante Merkwürdigkeit aufzuweisen wie der Friedhof der Stadt Annaberg im Erzgebirge. Dort steht die riesige, uralte „Auferstehungslinde“, die von jedem Besucher des Gottesackers bestaunt wird als ein Zeugnis der Güte und Allmacht Gottes. Die Geschichte dieser Linde ist folgende: Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts lebte in Annaberg ein junger Mann, der seinen Eltern durch Leichtsinn und Unglauben bitteren Kummer bereitete. Alle Ermahnungen blieben fruchtlos. Das Schlimmste war, daß er bei jedem Hinweis auf eine einstige Verantwortung seiner Handlungen vor dem Richtstuhl Gottes mit Hohn und Spott antwortete und behauptete, ein zukünftiges Leben und eine Auferstehung der Toten sei nur ein Phantasiegebilde… Der Pfarrer des Ortes, dem die Eltern ihre Not klagten, gab sich alle Mühe, den Sohn zur Erkenntnis zu führen. Einmal ging er mit ihm auf den Gottesacker. Er stellte ihm vor, daß so, wie auf den umliegenden Feldern der in der Erde gelegte Same ersterbe und danach zu neuem Leben erwache, auch einst die Menschen aus den Gräbern hervorgehen würden. Aber vergebliche Mühe. Der ungläubige Jüngling wies auf eine junge Linde des Friedhofs und sagte lachend: „Sowenig als dieses Bäumlein, wollte man es ausreißen und verkehrt mit den Ästen in die Erde pflanzen, wachsen und gedeihen würde, ebensowenig werden auch die Toten lebendig aus der Erde gehen.“ Da antwortete der Pfarrer in heiliger Begeisterung: „Ich weiß es gewiß, Gott wird so gnädig sein und – um solchen Unglauben zu strafen – ein Zeichen seiner Macht dadurch setzen, daß er diese Linde, wenn auch umgekehrt in die Erde gepflanzt, zu einem mächtigen Baume wachsen lassen wird!“ Er zog das Bäumlein heraus, grub es, die Wurzeln nach oben gekehrt, mit den Zweigen in die Erde. Und das Bäumlein gedieh und wuchs zu einer Riesenlinde heran und hält noch heute mit seinen weitverbreiteten Ästen und Zweigen allen Besuchern des Kirchhofs eine lebendige Auferstehungspredigt.
Bei genauer, näherer Betrachtung dieses Lindenbaumes bleibt kein Zweifel, daß er auf die oben berichtete Weise gepflanzt wurde. Der Stamm hat einen Umfang von acht Metern und eine Höhe von zwei Metern. Darüber erstrecken sich die ehemaligen Saugwurzeln, sechzehn an der Zahl, als etwa acht Meter lange Äste wie ein flachliegendes Dach, das jetzt von elf steinernen und acht hölzernen Säulen gestützt wird. Von der Mitte dieser Baumkrone aus erstreckt sich die sogenannte Pfahlwurzel als Fortsetzung des Stammes in eine Höhe von über dreißig Metern mit weitverzweigten Ästen. So steht noch heute dieser mächtige Baum auf dem Gottesacker zu Annaberg und breitet seinen Schatten über die stillen Wohnungen der Entschlafenen aus, gleichsam als wolle das leise Säuseln seiner Blätter den Schläfern dort unten zurufen: „Seid getrost, der Herr wird auch euch einst zu neuem Leben erwecken!“
Ernst Bertsch
(Aus: Lass das Geheimnis zu dir ein, Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1964, S. 181-182)
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